Jean-Pierre Melvilles legendärer Film "Der eiskalte Engel", mit dem in Frankreich den Krimi verglichen hat, auch nicht. Der Vergleich ist auch in anderer Hinsicht stimmig. Der Blick des Erzählers nämlich richtet sich konsequent von außen auf die Figuren und auf alles, was geschieht. Es ist ein Kamerablick, allerdings, wie bei Melville, nicht dokumentarisch, sondern inszeniert, wenn auch sparsam. Wenn wir etwas über Innenwelten erfahren, so nur aus beobachteten Gesten, Bewegungen und den kleinen Rissen in den Dialogen der Brüder. Das ist umso erstaunlicher, als der Erzähler einer der Protagonisten selbst ist: Max, der jüngere der beiden Brüder.
Anfangs holt Max abends Jerry auf einem kleinen Schweizer Bahnhof nahe der französischen Grenze ab. Die beiden haben sich zwanzig Jahre nicht gesehen, denn so lange ist Jerry in Afghanistan. Man darf vermuten, dass er dort in einer terroristischen Organisation mitarbeitet. Mehr erfahren wir aber nicht. Die beiden fahren auf Skiern schwarz über die Grenze. Möglichst niemand soll wissen, dass Jerry wieder im Land ist, auch wenn ihn nach zwanzig Jahren wohl kaum noch jemand erkennen würde. In der Morgendämmerung entführen die Brüder wie geplant Samantha, die Tochter von Max' Chef, in einem Lieferwagen, und setzen dann ihre Lösegeldforderung ab, eine halbe Million Euro. Die Hälfte der brüderlich zu teilenden Summe soll an Jerry gehen, er braucht sie für "die Bewegung".
Die Lösegeldübergabe klappt. Das darf man alles erzählen, ohne dem geübten Krimileser den Spaß zu verderben. Der nämlich wird eher darauf warten, dass ein entscheidender Fehler gemacht wird, zumal Entführungsfälle die Kapitalverbrechen mit der höchsten Aufklärungsquote sind. Auf der anderen Seite wird er sich vielleicht wundern, wieso einer der beiden Entführer die Geschichte im Nachhinein erzählen kann und wo er das tut. Vielleicht wird er auf das Auftreten der Polizei warten. Aber Ravey kann auf die Polizei verzichten. Es gibt keinen Kommissar mit Macken, keinen Inspektor, dem er auf die Nerven geht, keine Irrwege, keine falschen Spuren.
Doch. Es gibt Schwierigkeiten mit Jerrys Abreise, und es gibt Sand im Getriebe. Beim Lesen mag man sich erinnern, dass die Geschichte von einem der Beteiligten erzählt wird, was stark auf den klassischen unzuverlässigen Erzähler hindeutet. Der aufmerksame Leser mag irgendwann auf den Gedanken kommen, dass die auftretenden Komplikationen nicht ungewollt sind. Jeff Costello in Melvilles Film war ein eiskalter Engel, ein schöner noch dazu, wenn man bedenkt, dass Alain Delon damals erst 32 Jahre alt war. In diesem Roman ist ein eiskalter, aber hässlicher Teufel am Werk. Sympathieträger gibt es hier ohnehin keine.
Es ist auch die Geschichte von Kain und Abel, die hier erzählt wird. Dass Jerry weder das Grab seines Vaters sehen will noch seine Mutter, die im Altersheim lebt, dass er seit zwanzig Jahren weg ist aus diesem Kaff im französisch-schweizerischen Grenzgebiet, dass sein Bruder, Prokurist in der Firma von Samanthas Vater (die illegale syrische Arbeiter ausbeutet), nichts darüber weiß, was Jerry eigentlich in Afghanistan treibt, und dass die Dialoge zwischen den beiden überaus spannungsgeladen sind - das deutet auf eine verkorkste Familiengeschichte hin. Zum Glück erspart uns Ravey diese Geschichte, sonst hätten wir schon wieder einen Familienroman. Ein paar Andeutungen genügen. Das Innuendo, das unaufdringlich gesetzte Zeichen, ist überhaupt ein Charakteristikum von Raveys Buch - das andere ist die krude Schilderung der nackten Gewalt.
Außer der geographischen Angabe zum Grenzgebiet ist der Roman merkwürdig ortlos, aber keineswegs konturlos. Fast ist er auch zeitlos. Der Vater hat den Söhnen gezeigt, wo er während der Besatzung als Angehöriger der Forces Françaises Libres seine Waffe versteckt hatte. Das wird vermutlich in der Nachkriegszeit gewesen sein, und bedenkt man, dass Jerry zwanzig Jahre weg war und man die Brüder im Alter um die Vierzig schätzen kann, dann spielte dieser Roman vielleicht in den späten Siebzigern, frühen Achtzigern. Dazu passt, dass es sich erkennbar um eine Welt ohne Handys und ohne Internet handelt. Dennoch imaginiert man beim Lesen ständig die Gegenwart. Dafür gibt es einen Grund: Raveys Erzählen fehlt jegliche Betulichkeit, und es gibt darin kein Wort zu viel. Deshalb ist es von heute.
JOCHEN SCHIMMANG
Yves Ravey: "Bruderliebe". Roman.
Aus dem Französischen von Angela Wicharz-Lindner. Verlag Antje Kunstmann, München 2012. 110 S., geb., 14,95 [Euro].
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